Pre-Race Nerves: Wenn der Kopf in der Rennwoche verrücktspielt – und die Technik Öl ins Feuer gießt

Die Rennwoche eines Ironman-Triathlons ist für viele Athleten der mental forderndste Teil des gesamten Vorbereitungsprozesses. Monate, manchmal Jahre akribischen Trainings liegen hinter einem – und doch sind es die letzten Tage vor dem großen Tag, die den Puls in die Höhe treiben und den Kopf auf eine harte Probe stellen.

“Pre-Race Nerves”, also die klassische Wettkampfnervosität, sind ein fester Bestandteil dieser Phase. Sie äußern sich nicht nur in Anspannung und Gedankenkreisen, sondern auch in körperlichen Phänomenen – und werden heute zunehmend durch die ständige Selbstvermessung via Garmin, Oura, Whoop & Co. verstärkt.

Die Psyche spielt verrückt: Kleine Wehwehchen werden zu großen Sorgen

Kaum beginnt das Tapering – also die Trainingsreduktion zur Regeneration – werden viele Athleten hypersensibel. Während intensiver Trainingswochen gingen kleinere Beschwerden oft unter oder wurden als normal akzeptiert. In der Rennwoche aber wird jedes noch so kleine Signal des Körpers potenziell bedrohlich wahrgenommen.

Plötzlich schmerzt das Knie. Die Wade fühlt sich „komisch“ an. Ein leichtes Halskratzen wird als Vorbote einer schlimmen Erkältung gedeutet.

In den meisten Fällen sind diese Beschwerden völlig harmlos. Oft sind sie sogar psychosomatisch oder das Ergebnis einer übermäßigen Selbstbeobachtung.

Typische „Zipperlein“ in der Rennwoche

  • Phantomschmerzen: Beschwerden treten plötzlich auf, wandern von Tag zu Tag oder verschwinden genauso schnell, wie sie gekommen sind – ein klassisches Zeichen für nervlich bedingte Überreaktionen.

  • Magen-Darm-Sorgen: Appetitlosigkeit, nervöser Magen, ungewohnte Verdauungsprobleme – der Kopf schlägt sich sprichwörtlich auf den Bauch nieder.

  • Erkältungsangst: Ein Kratzen im Hals oder ein leicht erhöhter Ruhepuls wird sofort als sich anbahnende Erkrankung interpretiert – oft unnötig.

  • Schlafprobleme: Schlechter Schlaf in den letzten Nächten vor dem Rennen ist die Regel, nicht die Ausnahme – und hat entgegen der Befürchtung meist keinen nennenswerten Einfluss auf die Leistungsfähigkeit.

Die neue Nervositätsfalle: Schlechtere Vitalwerte auf Garmin, Oura oder Whoop

Ein moderner Verstärker der Pre-Race Nerves ist die ständige Selbstvermessung. Was ursprünglich helfen sollte, Training und Erholung besser zu steuern, wird in der Rennwoche häufig zur Stressquelle.

Viele Athleten berichten von plötzlich scheinbar schlechteren Vitalwerten:

  • Der Erholungsstatus auf Garmin ist „rot“.

  • Die HRV (Herzfrequenzvariabilität) auf Whoop sinkt.

  • Die Schlafqualität laut Oura ist auf einmal „fragmentiert“.

  • Der Ruhepuls liegt leicht erhöht.

Das Perfide: Gerade in der Phase, in der man eigentlich besonders frisch sein sollte, zeigen die Geräte vermeintlich das Gegenteil – und die Panik steigt.

Warum die Werte im Tapering oft trügen

  • Psychischer Stress wird unterschätzt: Die emotionale Anspannung durch Reise, Organisation und Wettkampfangst schlägt sich direkt in den Vitaldaten nieder – häufig stärker als körperliche Belastung.

  • Verändertes Bewegungsmuster: Das reduzierte Trainingsvolumen kann kurzfristig Vitaldaten beeinflussen, die an höhere Aktivitätslevel gewöhnt waren.

  • Überfokussierung: Durch das tägliche Tracken steigt die Wahrscheinlichkeit, dass minimale Schwankungen überinterpretiert werden und unnötige Sorgen auslösen.

  • Algorithmen sind nicht allwissend: Wearables berücksichtigen keine Emotionen, Reisebelastungen oder psychischen Stressfaktoren. Sie liefern Rohdaten, keine perfekten Diagnosen.

Die Gefahr: Wenn Technik den Kopf steuert

In der Rennwoche geraten viele in einen Teufelskreis:

  1. Das Gerät meldet einen „schlechten“ Erholungsstatus.

  2. Die Nervosität steigt.

  3. Der Schlaf wird schlechter.

  4. Die Vitaldaten verschlechtern sich weiter – und die Panik nimmt zu.

Dabei zeigen Erfahrungsberichte von Top-Athleten: Viele haben trotz schlechter Vitalwerte Bestzeiten erzielt. Der Körper kann im Wettkampf oft mehr leisten, als ein Algorithmus prognostizieren kann.

Was wirklich hilft: Strategien für die Rennwoche

  • Akzeptieren, was ist: Pre-Race Nerves gehören dazu. Sie sind kein Zeichen von Schwäche, sondern Beweis, dass einem das Rennen wichtig ist.

  • Routinen beibehalten: Regelmäßige Essenszeiten, Spaziergänge, lockere Bewegung und geregelte Schlafzeiten geben Sicherheit.

  • Technik bewusst steuern: In der Rennwoche gezielt den Fokus von Vitaldaten weglenken. Manche Athleten legen ihre Uhr ab oder ignorieren Erholungsanzeigen konsequent.

  • Langfristige Trends statt Tageswerte betrachten: Einzelne „schlechte“ Tage bedeuten wenig. Entscheidend ist, ob die Vorbereitung insgesamt positiv war.

  • Auf das Körpergefühl vertrauen: Die innere Wahrnehmung von Frische, Motivation und Vorfreude ist oft der beste Gradmesser für die tatsächliche Leistungsfähigkeit.

  • Mentale Werkzeuge nutzen: Visualisierung, Atemtechniken, Meditation oder Gespräche mit vertrauten Personen können helfen, den inneren Druck zu regulieren.


Fazit: Die Rennwoche ist ein mentales Spiel – Technik kann helfen, aber auch stören

Pre-Race Nerves, kleine Zipperlein und scheinbar schlechte Vitalwerte sind in der Rennwoche eines Ironman keine Ausnahmen, sondern fast schon Normalität. Der Körper reagiert auf den psychischen Druck, und moderne Wearables sind oft mehr Stimmungsbarometer als objektive Gesundheitsmesser.

Wer lernt, die Daten richtig einzuordnen, sich von kleinen Schwankungen nicht aus der Ruhe bringen zu lassen und auf das eigene Körpergefühl zu vertrauen, wird die Rennwoche entspannter erleben – und am Renntag mit klarem Kopf und voller Energie an der Startlinie stehen.

Können Metriken die reale Trainingsbelastung widerspiegeln?

Viele Apps und Tools versuchen heute, die Trainingsbelastung in irgendeiner Form zu berechnen und sie objektiv in Form von Metriken wie TSS oder CTL darzustellen. Diese Zahlen sollen zeigen, wie anstrengend das Training war und wie es deinen Körper beeinflusst. Klingt eigentlich vielversprechend, doch leider sind die damit verbundenen Argumente leicht zu entwaffnen.

1. Schon die Messung der äußeren Belastung ist schwierig

Die erste Idee klingt logisch: Je mehr Leistung man bringt und je länger man diese aufrechthalten kann, desto härter war das Training. Daraus wird dann ein Wert berechnet, zum Beispiel TSS.

TSS} = {Dauer in Stunden} X IF 2 x 100

Aber: Ist ein 30-Minuten-Intervall mit 280 Watt wirklich genauso anstrengend wie 60 Minuten mit 140 Watt? Wahrscheinlich nicht – denn die höhere Intensität macht es deutlich schwerer, auch wenn die „Arbeit“ rechnerisch die Gleiche ist.

Deshalb wird bei vielen Modellen nicht nur die Leistung, sondern die Leistung hoch 2 genommen, denn dadurch soll die Intensität stärker gewichten werden. Bleibt die Frage offen, warum gerade zum Quadrat und nicht hoch 3 oder hoch 1,5? Die Wahrheit ist, dass diese Regeln einfach irgendwann ohne wissenschaftliche Grundlage festgelegt wurden.

Auch  die „Normalized Power“ (NP), also eine geglättete Durchschnittsleistung, ist eine fragwürdige Annahme. Sie soll den wahren Energieaufwand besser darstellen, besonders wenn das Tempo stark schwankt. Aber auch hier gilt: Es ist ein Modell, keine perfekte Wahrheit.

2. Wie man auf dieselbe Belastung reagiert, hängt von mehreren Faktoren ab

Selbst wenn zwei Trainingseinheiten auf dem Papier gleich aussehen, kann die Reaktion des Körpers komplett unterschiedlicher Ausprägung sein.

Ein Beispiel:

5 Minuten Vollgas am Anfang einer Einheit fühlen sich ganz anders an als 5 Minuten Vollgas am Ende. TSS ist identisch, aber die Wahrnehmung kann durch Frische vs. Ermüdung komplett anders ausfallen.

Externe Faktoren wir Ernährung, Schlaf, Stress, Hitze, Kälte haben einen weiteren immensen Einfluss auf das Empfinden der Belastung.

Ein lockeres Training bei 35°C im Sommer kann sich härter anfühlen als ein langes Training im Winter und das,  obwohl die TSS-Zahl sogar niedriger wäre. Die körperliche Belastung wäre somit höher als es diese Metrik in Zahlen widerspiegelt.

Einige Tools versuchen, solche Dinge wie Temperatur oder Ernährung zu berücksichtigen, können aber nie genau vorhersagen, wie dein Körper gerade individuell reagiert.

3. Die gleiche Belastung hat nicht immer die gleiche Wirkung

Ein Training, das dich in einer Woche fitter macht, kann dich in der nächsten Woche überfordern – obwohl es genau gleich war, weil der menschliche Körper eben keine Maschine ist, die immer gleich funktioniert. Er reagiert je nach Energielevel, Stress, Müdigkeit, Krankheit oder Zyklusphase bei weiblichen Sportlerinnen anders. Mal passt er sich super an, mal überhaupt nicht.

Manche Sportler und auch Coaches verfallen der Annahme, dass mehr TSS oder ein höherer CTL-Wert automatisch mehr Fitness bedeutet. Das stimmt am Anfang auch oft, wenn man von wenig Training auf ein größeres Volumen umstellt.

Aber bei erfahrenen SportlerInnen ist das anders: Dort gibt es kaum noch Zusammenhang zwischen diesen Werten und der tatsächlichen Leistung. Sie können sehr viel trainieren und trotzdem schlechter werden oder aber auch umgekehrt.

CTL = gewichteter Durchschnitt der TSS der letzten 42 Tage, wird verwendet zur Bestimmung der Trainingsbelastung.

Ähnlich der Berechnung der TSS wurde hier einfach eine Zahl ohne jegliche wissenschaftliche Evidenz in den Raum geworfen.

4. Gleiche Reize führen zu unterschiedlichen Anpassungen

Auch wenn man vermeintlich alles „richtig“ macht, bleibt die Frage, ob man genau ansteuern kann, wie sich der Körper anpasst und reagiert.

Zum Beispiel:

Nur weil man viel in deinem VO2max-Bereich oder einen selbigen Block trainiert, heißt das nicht automatisch, dass sich auch genau dieser Wert verbessert. Die Aussage „wir machen jetzt mehr Vo2max“ ist daher auch relativ sinnbefreit. Zum einen führt jedes Training, egal ob Grundlage oder eben im Bereich der Vo2max zu einem Triggern dieser physiologischen Metrik und zum anderen bleibt offen, ob der Körper genau durch das Trainieren im Vo2max-Bereich selbige auch verbessert.

Der menschliche Körper passt sich viel mehr nach seinen eigenen Regeln an, nicht nach unseren antizipierten Denkmodellen. „Selbstorganisation“ beschreibt das Phänomen, dass der Körper die Anpassung selbst wählt. 

Manche nennen das den „Black Box“-Ansatz:

Man steuert nur, was man im Training macht, ABER der Körper entscheidet, wie er darauf reagiert.

Den Körper als „Black Box“ zu sehen, kann zunächst überfordernd und esoterisch-verschwurbelt wirken, aber auf der anderen Seite sind wir somit freier im Handeln und können uns von einer zu mechanistischen Denkweise lösen.

Wir können verschiedene Trainingsansätze entwickeln, um dasselbe Ziel zu erreichen. Trainings, die mehr Spaß machen, besser zu unserem Umfeld passen oder uns einfach mehr liegen.

Wir müssen nicht mehr zwanghaft versuchen, jede Woche ein bestimmtes TSS-Ziel zu erreichen, sondern uns auf das konzentrieren, was am Ende wirklich zählt.

Die Einführung der oben genannten Trainingsmetriken hat den Fokus zu sehr auf den Trainingsplan gelegt. Sie analysieren und messen das Programm, aber der Plan ist unter dem Strich nicht entscheidend. Champions werden zwar mit ganz unterschiedlichen Plänen erfolgreich. Und ein und derselbe Champion schafft es u.U. auch mit verschiedenen Trainern und Methoden, Ansätzen oder Prinzipien.

Wenn der Trainingsplan so entscheidend wäre, müssten wir dann nicht einfach nur den Plan eines Champions kopieren, ihn anpassen und hätten damit dann den gleichen Erfolg?

Die Wahrheit ist, nicht der Plan zählt, sondern die Wirkung, die das Training auf den Körper hat, ist entscheidend.

Mir ist egal, ob man diese Woche 50 TSS weniger gemacht hast als letzte Woche.

Letzte Woche war der Sportler ausgeruht, diese Woche ist er erschöpft.

Letzten Monat hat er mit einem CTL von 120 Bäume ausgerissen, diesen Monat fühlt sich dieselbe Leistung schwerer an.

In manchen Wochen kann man mehr Belastung verkraften, in anderen weniger. Die Fähigkeit, sich an Trainingsreize anzupassen, hängt von der Historie des Sportlers, dem Gesundheitszustand, äußeren Bedingungen, sozialen, psychologischen und ernährungsbedingten Stressfaktoren ab.

Das bedeutet nicht, dass man den Load nicht messen sollte. Man sollte diesem jedoch nicht allzu viel Raum geben in der Beurteilung des Leistungszustandes des Sportlers.

Man braucht daher eigentlich nur zwei Dinge zu messen:

1. Ermüdungs-/Erholungszustand

Trainierst du mehr, weniger oder ungefähr so viel, wie du aktuell verkraftest? Und wie stark weicht das ab?

2. Deine Leistungsentwicklung

Verbesserst du dich, bleibst du gleich oder baust du ab – und zwar in drei Bereichen:

•Ausdauer (aerob)

•Hohe Intensität (anaerob)

•Kraft

Mit nur diesen zwei Faktoren können wir bereits ein ziemlich gutes Bild zeichnen und daraus ableiten, wie wir auf kurz-, mittel- und langfristig handeln sollten.

Nicht der Trainingsplan zählt, sondern die Wirkung, die er auf den Sportler hat!

Solange wir nur den Plan statt die Reaktion des Körpers messen, werden wir nie wirklich verstehen, was passiert. Und egal, wie sehr wir die Algorithmen optimieren, es wird die Vorhersagekraft der Reaktion des Körpers nicht verbessern können, denn das Grundproblem bleibt bestehen. Die Vorstellung, dass Training automatisch zu einer vorhersagbaren Anpassung führt, ist einfach nicht korrekt.

Fazit:

Trainingsmetriken wie TSS oder CTL können eine grobe Richtung geben. Sie helfen dabei, das Training zu strukturieren und grobe Überlastungen zu vermeiden, zeigen jedoch sicher nicht die ganze Wahrheit. Der Körper ist keine einfache Maschine, der jeden Tag gleich funktioniert. Was heute gut tut, kann morgen zu viel sein. Was bei Sportler A wirkt, kann bei Sportler B keine Wirkung haben. Und genau das macht Training bzw. die Arbeit als Trainer sehr spannend, auch wenn es noch so komplex ist.

 

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