16. Juni 2021 Mario Schmidt-Wendling

Das Wissen um die Wissenschaft

Man hört und liest immer wieder von wissenschaftlichen Ansätzen und Trainern mit wissenschaftlicher Arbeitsweise. Gerade in den letzten Jahren haben sich immer neuere Felder im Trainerwesen und neue Mess-Devices mit dem Versprechen der Leistungssteigerung im Sport etabliert. In diesem Zuge wird immer wieder erwähnt, dass sich all dies auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützt. Ich frage mich, ob wir alle von der gleichen Definition von Wissenschaft sprechen. Um alle Leser dieser Zeilen auf den gleichen Wissensstand zu bringen, möchte ich hier eine Definition zum Besten geben:

„Wissenschaft ist das Streben und die Anwendung von Wissen und Verständnis der natürlichen und sozialen Welt nach einer systematischen, auf Beweisen basierenden Methodik“.

Nach Lesen dieser Definition möchte ich Trainer, die mit einer wissenschaftlich orientierten Arbeitsweise hausieren gehen, hinter dem viel zitierten Ofen hervorlocken und zum Nachdenken mit folgenden Fragen anregen:

– ist deine Coaching-Philosophie wirklich wissenschaftlich begründet?
– was ist das Wissenschaftliche an deiner Arbeitsweise?
– aus welchen Quellen beziehst du deine wissenschaftlichen Kenntnisse?

Ich frage mich seit einigen Jahren, ob die Arbeitsweise eines Trainers wirklich wissenschaftlich begründet ist oder ob das Ganze nicht eher auf angewandter empirischer Beobachtung nach dem Trial & Error- Prinzip basiert. Die Handschrift eines Trainers entwickelt sich in meinen Augen unterschwellig mit dem im Traineralltag Gesehenen, Gehörten und Erlebten. Auf die Frage, nach welchen Prinzipien und Methoden gearbeitet wird, fällt es doch vielen meiner Trainerkollegen schwer, diese in Worte zu fassen. Zudem ist unser Gehirn voll von kognitiven Fehlleitungen und Denkmustern, die uns in unserer Entscheidungsfindung beeinflussen. So wundert es nicht, dass wir uns ganz nach dem Belohnungsprinzip eher auf die Suche nach Informationen begeben, die unsere bereits bestehenden Ansätze weiterhin untermauern, denn dadurch fühlt man sich weiterhin in seinem Handeln bestätigt. Doch ist das am Ende objektiv und wirklich wissenschaftlich? Wissenschaftlich fundiertes Wissen wird durch objektive und systematische Messungen und Daten und weniger auf Meinungen und Gefühle ermittelt. Dazu braucht es Experimente, eine kritische Auseinandersetzung und die Expertise von Fachleuten im jeweiligen Bereich. Machen all diese objektiven Maßnahmen die wissenschaftlich basierte Arbeit als Trainer denn wirklich besser? Die Antwort lautet, wie so oft im Sport: Kommt drauf an.

Hierzu sollte man immer wieder hinterfragen, wie es um die Qualität der wissenschaftlichen Evidenz bestellt ist. Teilweise werden Studien mit zu geringer Probandenzahl, Nicht-Sportlern, primär Männern etc. veröffentlicht, so dass man deren Aussagekraft in Frage stellen darf. Ein weiterer wichtiger Punkt an der Stelle ist die Fähigkeit, solche Paper richtig zu lesen, zu verstehen, diese zu interpretieren und am Ende auch noch in die Sportpraxis zu übertragen. Apropos Sportpraxis. Die meisten Studien und Versuche finden in kontrollierten Bedingungen oder im Labor statt und sind dabei meist reduziert auf einen zu untersuchenden Aspekt. Der Transfer dieser Ergebnisse in den viel komplexeren und unsteteren Alltag eines Sportlers ist nicht wirklich 1:1 gewährleistet. Das Leben mit all seinen Facetten erschwert die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse in reale Bedingungen signifikant.

Eine wissenschaftliche Terminologie zu nutzen bedeutet im Umkehrschluss nicht automatisch, dass man Wissenschaft auch anwendet!Für mich ist das oftmals eher eine Form von Augenwischerei.

In meiner Coachingwelt geht es nicht um ein unreflektiertes Anwenden wissenschaftlicher Kenntnisse, sondern um das Verknüpfen von Wissen, Erfahrung, Empirie und Empathie. All das soll am Ende eine Verhaltensänderung beim Sportler auslösen, so dass dieser für sein eigenes Handeln die richtigen und zielführenden Entscheidungen fällt.

Wissenschaft ist somit in meinen Augen eher als objektiver Motor zu verstehen, der das subjektive Entscheidungsvehikel antreibt. Wir sollten unsere eigenen Überzeugungen, die wir durch Erfahrung in unserem Coaching oder durch unsere eigenen Augen aufgebaut haben, nicht als weniger objektiv abtun als die Wissenschaft. Aber wir müssen immer aufgeschlossen sein und auch alternative Ansätze und unterschiedliche Standpunkte berücksichtigen. Um dies tun zu können, müssen intellektuelle Argumente verwendet werden, die manchmal durch wissenschaftlich fundierte Methoden unterstützt werden. Es bedeutet auch, wissenschaftliche Beweise nicht für bare Münze zu nehmen. Vielmehr müssen wir wissen, wie und warum die Wissenschaft in der realen Welt funktioniert. Schlussendlich müssen wir Beweise haben, die unsere Überzeugungen stützen.

Ich würde mir wünschen, dass wir einen etwas weniger inflationären Umgang mit dem Begriff Wissenschaft im Kontext Sport pflegen könnten und weniger vorschnell die Ergebnisse einer Studie für in Stein gemeißelt betrachten. Trainer, die vermeintlich nicht nach wissenschaftlichen Kenntnissen arbeiten, gelten schnell als old school und Kollegen, die sich Wissenschaft auf die Visitenkarte schreiben, als new school und innovativ. Keiner aus beiden Lagern ist besser oder schlechter per se, ein Schubladendenken ist irgendwie fehl am Platz.